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EMDR wirkt - Traumatische Erinnerungen heilen

emdr_traumatische_erinnerungen_heilen_kopfWie sich das Gedächtnis verändern lässt

Ulrike Beckhardt hatte nur einmal in ihrem Leben Todesangst: am 6. Februar 2000. Damals saß sie im Unglückszug von Brühl: Kurz nach Mitternacht entgleist der Nachtexpress mit Tempo 120 kurz hinter Köln – mitten im Bahnhof der kleinen Stadt Brühl. Lok und Waggons rasen in die Vorgärten und zertrümmern zwei Häuser. Neun Menschen sterben, 149 Passagiere erleiden zum Teil schwerste Verletzungen. Ulrike Beckhardt, damals in Ausbildung zur Psychiaterin, saß auf einem Klappsitz im Gang – das rettete ihr Leben. Denn in unmittelbarer Nähe starben Menschen, die im zerschmetterten Abteil eingeklemmt waren.

Schwerverletzte in zerschmetterten Waggons
 
Die Katastrophe von Brühl: geknickter Waggon im Bahnhof, die Lok stand im Vorgarten eines EinfamilienhausesDie junge Frau kam mit einem gebrochen Arm davon, doch die Todesangst – vor allem die grauenvollen Bilder – brennen sich in ihr Gedächtnis ein: ein abgerissener Arm, ein Mann mit einer schweren Stirnverletzung, dem ein Auge herausquillt, eine Frau, die aus dem Mund blutet, weil sich gebrochene Rippen in ihre Lunge gebohrt haben. Das Schlimmste ist ein Rumpf mit abgerissenem Kopf. Tagelang steht Ulrike Beckhardt danach unter Schock, sie zittert am ganzen Körper, nachts schreckt sie auf, sie hat Alpträume. Und immer wieder stehen ihr die entsetzlichen Bilder vor Augen. Das ist typisch für die Folgen eines Traumas, wissen Ärzte und Psychologen. Solche Symptome können wochen-, sogar monatelang anhalten, bis die Betroffenen das Erlebnis verarbeitet haben. Und oft gelingt das nicht vollständig.

Es ist nicht vorbei
 
Die Bilder des 11. September 2001 holten den Horror des Zugunglücks von Brühl wieder hervor
So auch bei Ulrike Beckhardt: Nach einigen Stunden Psychotherapie und einer schnellen Rückkehr zur Normalität geht es ihr zunächst gut. Sie will dem Unglück nicht zu viel Raum geben, fährt schon zehn Tage später wieder Zug und stürzt sich in die Arbeit. Doch dann kehrt der Schrecken wieder – anderthalb Jahre später, am 11. September 2001. Als Tag und Nacht die Bilder der Terrorattacke auf New York im Fernseher laufen, wird die energische Ärztin, die sich geheilt glaubte, von den akuten Schocksymptomen überfallen: das schwere Zittern, das nächtliche Aufschrecken; neu dazu kommen Atemnot und Erstickungsangst, nicht nur nachts, sondern auch unwillkürlich tagsüber, wenn sie arbeitet. Und immer wieder schießen die Horrorbilder vom Zugunglück wie Blitzlichter vor ihrem inneren Auge auf.

Traumatische Erinnerungen funktionieren anders
 
Dr. Martin Sack vom Klinikum rechts der Isar ist Traumaforscher und Facharzt für Psychotherapie
Viele Traumaopfer haben mit solchen wiederkehrenden Symptomen zu kämpfen. Martin Sack ist Traumaforscher und Facharzt für Psychotherapie an der TU München; er betreut viele Patienten, die schwere Erlebnisse nicht verarbeiten konnten. Besonders Opfer von Gewaltverbrechen, Vergewaltigungen und Kindesmisshandlung entwickeln eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung. Auffallend dabei ist, dass die Erinnerungen an traumatische Ereignisse anders sind als gewöhnliche Erinnerungen. Sie werden unwillkürlich abgerufen und führen im Gedächtnis eine Art Eigenleben: "Das Besondere an traumatischen Erinnerungen ist, dass sie sich immer wieder aufdrängen, dass man sie ungewollt erinnert. Sie kommen dann mit der ganzen emotionalen Belastung, mit dem ganzen Horror, mit dem Schrecken, der dazugehört, wieder hoch. Man wird geradezu überfallen, überschwemmt, kann sich kaum dagegen wehren und das zeigt, dass diese Erinnerungen eine ganz andere Qualität haben als eine normale, verarbeitete Erinnerung", so der Experte.

Augenbewegungen helfen gegen die Angst
 
Ulrike Beckhardt bei der EMDR-Therapie: Die Augen folgen der Hand des Therapeuten hin und her, immer wieder
Ulrike Beckhardt hatte jedoch Glück: Sie fand 2001 einen Psychotherapeuten, der sie von den quälenden Traumafolgen befreien konnte. Der Bonner Psychologe Mark Novy behandelte sie mit einer Technik, die in den 1980er-Jahren von der amerikanischen Psychologin Francine Shapiro entwickelt wurde. Die Methode heißt "Eye Movement Desensitization and Re-Processing" (EMDR) und bedeutet etwa "Entlastung und Neu-Bewertung durch Augenbewegungen". Dabei fordert der Therapeut den Patienten auf, sich die belastende Erinnerung bewusst ins Gedächtnis zu rufen. Zugleich bewegt er vor dem Patienten die Hand hin und her, wobei der Patient den Handbewegungen mit den Augen folgen soll. So simpel die Technik scheint, so schnell und nachhaltig hilft sie: Nach nur vier Sitzungen konnte Ulrike Beckhardt wieder durchschlafen, die quälenden Bilder und Angstanfälle verschwanden. Auch sonst genügen laut Experten durchschnittlich fünf EMDR-Sitzungen, um den Patienten entscheidend zu helfen, und es funktioniert auch bei lange zurückliegenden Ereignissen, etwa aus der Kindheit. Von Francine Shapiro durch Selbstbeobachtung entwickelt und praktisch angewandt, galt EMDR unter etablierten Psychologen jedoch lange als Hokuspokus. Der "Spiegel" verhöhnte Shapiros Methode 1994 als "Winke-Winke-Therapie". Doch seit 2005 ist die esoterisch anmutende Außenseitererfindung von wissenschaftlichen Fachgesellschaften international anerkannt, auch in Deutschland.

Nur noch ein Stück Lebensgeschichte

Das Zusammenführen von Augenbewegungen mit dem aktiven Erinnern ist der Schlüssel, glaubt Martin Sack. Denn das Hin und Her der Augäpfel wirkt im Körper unwillkürlich entspannend, ohne dass das bewusst zu steuern wäre. Dann gelangen beruhigende Körpersignale ins Gehirn, und zwar gerade in der Phase, in der eine Erinnerung aktiviert und daher offen für Veränderung ist. Im Gehirn überlagert dann die aktuelle Entspannung die alte Angst. Allerdings funktioniert das nur in einem bestimmten Zeitfenster, nämlich etwa 15 Minuten nach dem Aufrufen der Erinnerung. Kommt das Entspannungssignal später oder dauert die Stressphase länger an, wirken die Augenbewegungen nicht – dann gerät der Patient wieder in den Sog des belastenden Erlebnisses. Doch leitet der Therapeut die Augenbewegungen fachmännisch an, ist das Ergebnis ein Erinnern ohne Angst: Der Gedächtnisinhalt bleibt erhalten und wird keineswegs gelöscht. Aber die Patienten können oft erstmals von ihren Erlebnissen erzählen, ohne in Gefühlsaufruhr zu geraten: Das belastende Ereignis verwandelt sich in ein Stück Lebensgeschichte.

Autorin: Johanna Bayer

Ausführlicher Artikel in PDF: EMDR - Traumatische Erinnerungen heilen

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