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Film von Alanus-Professor beim Festival von Locarno

Die Hueter der TundraAlfter, 29. Juli 2013 - Der Dokumentarfilm „Die Hüter der Tundra“ von René Harder wird beim diesjährigen internationalen Filmfestival von Locarno präsentiert.
Der Film feiert im Rahmen des Festivals am 11. August Premiere.
Das Festival gehört zu den ältesten und renommiertesten Filmfestspielen der Welt.
René Harder, der an der Alanus Hochschule eine Professur für Schauspiel inne hat, zeigt in „Die Hüter der Tundra“, wie das letzte Dorf samischer Rentierzüchter versucht, seine Identität zu wahren. Ihr abgeschiedenes Dorf liegt auf der russischen Kola-Halbinsel nördlich des Polarkreises. Jedes Jahr versammeln sich hier die Hirten beim ‚Fest des Nordens’ zu spektakulären Rentierschlitten-Rennen. Doch ihre Weidegründe in der Tundra sind von Erschließung-Projekten internationaler Rohstoffkonzerne bedroht. Das Dorf soll geräumt werden. Sascha, die 30jährige Abgeordnete des neugegründeten Parlaments der Samen, will dies verhindern und ihr Dorf retten. Harder hat das Drehbuch geschrieben und Regie geführt. Der Film ist eine Produktion von Arte/ZDF sowie der Produktionsfirmen Lichtblick (Deutschland) und Relation04 (Norwegen).   „Die Hüter der Tundra“ ist nicht der erste Film von René Harder: „Herr Pilipenko und sein U-Boot“ erhielt 2007 den Publikumspreis beim Internationalen Dokumentarfilmfestival von Yamagata (Japan) und wurde beim Cleveland International Film Festival als „Best Documentary“ ausgezeichnet.

Die Hüter der Tundra - Autoren-Kommentar von René Harder

Der Beginn war ein Zauber. Ein Teammitglied aus der Filmcrew „Herr Pilipenko und sein UBoot“ schickte mir Fotos von der Kola-Halbinsel. Die weiten wie kargen, letztendlich fremden Landschaften zogen mich sofort in ihren Bann. Umso erstaunlicher war für mich die Erkenntnis, dass die Kola-Halbinsel nicht entfernter als Gibraltar ist und immerhin die Größe von Holland und Belgien zusammen hat. Nicht nur ich selbst wusste so gut wie nichts über diese nordöstliche Ecke Europas (und das, obwohl ich mich schon lange mit Europas Osten beschäftige), sondern auch mein Umfeld. Bezeichnenderweise verbanden die meisten mit dem geographischen Begriff Kola eine indonesische Insel am anderen Ende der Welt. Auch die Geschichten, auf die ich bei meinen Recherchen stieß, wähnen wir in der Ferne: Ureinwohner ringen ums Überleben in einer von Einwanderern geprägten Umwelt. Viele aus diesem europäischen Ur-Volk der Samen (Sapmi) ergeben sich dem Alkohol, der Depression und enden allzu oft im Selbstmord. Die Lebenserwartung eines Mannes beträgt gerade mal 45 Jahre. Ihr Alltag ist von Armut und Arbeitslosigkeit geprägt. Dennoch gibt es seit der Perestroika immer mehr dieser Ureinwohner, die begreifen, dass sie nirgends anders leben wollen – und manche erlebten, dass sie nirgends anders leben können. Schließlich war ich nicht nur fasziniert von der Andersartigkeit der Landschaft, sondern auch von der Lebensweise. Einerseits sind die Samen durch ihre russische Schulbildung uns kulturell erstaunlich nah. Dennoch leben sie ganz anders. (Manche versuchen das mit einer anderen genetischen Programmierung zu beschreiben, die sich in der extremen, von allen anderen abgeschiedenen Lebensform des Nordvolkes ergab.) Dieses „Ganz-anders-leben“, das Triebkraft für mein Interesse ist, hat auch viele Konsequenzen für die Herstellung eines solchen Filmprojektes. Oft musste ich von Grund auf mit der Geschichte neu beginnen. Das Leben funktioniert dort in der Tat weniger planbar als bei uns: Eine Protagonistin verlor durch Neid getrieben die Gunst ihrer ehemaligen Mitstreiter und musste ihr Projekt aufgeben (sie kämpft nun gegen die Behauptungen der Unterschlagung und muss Angst vor einer Gefängnishaft haben). Ein anderer Protagonist ertrank, als sein Boot im Sturm kenterte. Eine politische Aktivistin wurde schwanger und stellte ihre politischen Pläne erst einmal hinten an…

Es war nicht nur von der Reise her schwer, Zugang zu meinen Filmhelden zu finden. Die Abgeschiedenheit war leichter zu überwinden – im Sommer mit dem Hubschrauber im Winter in bis zu 24 Stunden dauernden Schneemobilfahrten – als die kulturellen Missverständnisse. Über Jahre fragte ich vergeblich an, obwohl persönlich sehr schöne Kontakte bestanden, mit einer Brigade der Hirten durch die Tundra ziehen zu dürfen. Natürlich spielte da die Angst, als arm und rückständig zu erscheinen, eine große Rolle. Viel entscheidender war aber etwas, das ich lange nicht verstehen konnte: In Zeiten, da in Casting-Shows jedweder Art schier alles getan wird, um sich ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen, kam es mir nicht in den Sinn, dass das für jemand auch die größtmögliche Strafe sein kann: Herausgehoben zu werden. Erst, als ich diese Angst begriff, konnten die Dreharbeiten beginnen. Ich musste das Kollektiv achten, versprechen, einen für alle zu filmen und alle für einen. Im Schnitt sind wir sicherlich weniger basisdemokratisch verfahren. Ich hoffe nun sehr, dass mir meine Hauptprotagonisten das verzeihen können. Während mich bei „Herr Pilipenko…“ die Haltung faszinierte, dass er ein U-Boot in der ukrainischen Steppe baut, gerade, weil ein russisches Sprichwort ein U-Boot in der ukrainischen Steppe ausschließt, ist es hier der ebenfalls schier aussichtslose Kampf in einer marktwirtschaftlich orientierten Welt für eine Lebensform, die sich nicht rechnet. Krasnoschtschelje ist das letzte Dorf auf der Kola-Halbinsel, das von Rentierzucht lebt. Damit ist es das letzte seiner Art in Europa. Über 20 000 Dörfer wurden seit der Perestroika aufgegeben. Es ist das sehr gefährdete letzte kulturelle Denkmal, das sich aus einer jahrtausendwährenden Symbiose der Samen und anderer aus dem Osten zugewanderter Urvölker hier mit den Rentieren entwickelte. Die Hirten gingen Monate, schließlich wurden daraus Jahre, ihrer Arbeit nach, ohne Lohn dafür zu bekommen. Sie wollen den Faden, den ihre Ahnen gesponnen haben, nicht wegen kurzfristiger Renditerechnung abreißen lassen. Für mich stellen sich damit die allgemein geltenden Fragen, in welcher Weise die Industrie für die Menschen da ist oder die Menschen für die Industrie da sind. Welchen Preis sind wir bereit, für gewisse Wohlstands-Standards zu zahlen? Welches Recht und auch welche Möglichkeiten haben Einzelpersonen oder Gruppen in einer zunehmend gleichgeschalteten Welt, ihre eigenen Werte zu behaupten?

Die Protagonisten, die mich als Filmer faszinieren, sind Persönlichkeiten, die sich mit Leidenschaft und Humor in einer Umgebung behaupten, die viele niederdrückt. Ihrem Blick in die Welt möchte ich folgen und damit einen durch seine poetischen Motive letztendlich politischen Film schaffen. Ein Film, der erzählt, dass die Lebensqualität auch wesentlich von der Haltung abhängt, mit der die Menschen in der Welt stehen. Das Handeln der Teilnehmer hat, gerade weil es höchst eigenständig ist, eine große (symbolische) Bedeutung.